Marie Heinrich by Paul Keller

Marie Heinrich by Paul Keller

Autor:Paul Keller [Keller, Paul]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2016-05-26T00:00:00+00:00


16.

Gerda, die Nichte des Regierungsrats, war ein reizendes Persönchen von neunzehn Jahren, klein, blond, lustig. Ihre Eltern waren tot und hatten ihr nichts Nennenswertes hinterlassen. Da hatte der Regierungsrat sie aufgenommen, obwohl er Witwer war, zwei Söhne hatte, die studierten und auf sein Beamtengehalt angewiesen waren. Es reichte für ihn in den Ferien immer nur auf das billige Wiesenthal wenn er seinen Jungen die ersehnten sommerlichen Wanderungen durch Deutschland oder nach den Alpen nicht verwehren wollte.

Gerda hatte sich am meisten an Klaus angeschlossen; an seine Schwester wagte sie sich selten heran; denn sie wußte, daß Marie es gar nicht liebte, wenn man sie in der Arbeit störte oder mit unnützem Gerede aufhielt. Manchmal in den Abendstunden aber bat Marie sie, zu singen. Gerda hatte eine hübsche, wenn auch kleine Stimme und war in guter Schulung. Marie hatte große Vorliebe für Schubert und Mendelssohn. Sie besaß deren Lieder, und wenn sie ganz allein im Hause oder doch nur die Mutter da war, hatte sie manchmal leise gesungen. Bis ihr einmal Klaus heimlich zugehört und gesagt hatte: „Marie, du hast eine Stimme wie ein Bär!“ Da sang sie nicht mehr.

Nun war die kleine Blonde da, die eine Stimme hatte wie eine Lerche, von ihr ließ sich Marie zuweilen einige ihrer Lieblingslieder vorsingen. Einmal, als Neumann zu Besuch war, fragte Marie:

„Werden diese Lieder auch in den Konzerten großer Städte gesungen?“

„Gewiß“, lachte Gerda, „aber heute will man vor allem Richard Strauß hören, dann Hugo Wolf, Schumann und allenfalls Brahms. Alles andere gilt als überholt.“

„Wer bestimmt das?“ fragte Marie.

„Die Kritiker. Wenn die sagen überholt, so ist es überholt, auch wenn’s noch so schön ist. Außer den vier Komponisten, die ich nannte, sind alle anderen heute überholt. Ich finde, unter uns gesagt, Schubert und Mendelssohn auch sehr schön, aber ich würde mich hüten, in Musikerkreisen das zu sagen; man würde mich für schauderhaft altmodisch halten.“

„Können Sie ein Lied von Richard Strauß singen?“

„Ich muß ja fast nur Strauß singen. Ich werde Ihnen das Lied vortragen, das man immerfort, immerfort zu hören bekommt.“ Sie sang:

„Ich trage meine Minne,

Vor Wonne stumm,

Im Herzen und im Sinne

Mit mir herum.

O, daß ich dich gefunden,

Du liebes Kind,

Das freut mich alle Tage,

Die mir beschieden sind.“



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